Aller liebste Familie, Freunde und
Förderer!
Schon sind 2 Monate in Israel rum und es
wird Zeit für meinen ersten richtigen Rundbrief aus dem nahen Osten. Bisher fühlte sich das Ganze hier noch ein
bisschen wie ein langer Urlaub an. – Tolles Wetter, Sonne, Strand, Reisen …
Erst langsam realisiere ich, dass sich hier ein ganzes Leben aufbaut. –
Freunde, Arbeit, Alltag und auch Schwierigkeiten. Ich habe mich wunderbar hier
in Kfar Tikva eingefunden und genieße jeden Tag aufs Neue!
Jetzt, wo ich selber ein wenig Ahnung habe wie hier in Israel alles
abläuft und wie im Projekt alles funktioniert, möchte ich auch euch daran Teil
haben lassen. Ich wohne in einem kleinen Ort, Kiryat Tivon, nicht weit von
Haifa und arbeite in „Kfar Tikva“ = „Dorf der Hoffnung“- ein Platz, wo 200
Menschen mit Behinderung ( wir nennen sie Member) wohnen, arbeiten und leben. Eine
kleine Ausnahme gibt es, und zwar wohnen ca. 50 sehr selbstständige Member außerhalb des Projektes. Manche von
ihnen arbeiten sogar in der Ortsbäckerei oder einer Wäscherei und nutzen nur die
restliche Betreuung des Projektes. Alles sind Erwachsende. Außerdem gibt es 12
deutsche Volontäre, 5 israelische Volontäre und viele andere Mitarbeiter. Es
ist eine wunderbare Lage, nicht weit vom Ort, mit toller Aussicht und Blick ins
Tal.
Angelegt wie ein Dorf, wohnen die Member
in eigenen Häusern. Manche alleine, zu zweit oder in einer Wohngemeinschaft.
Mahlzeiten werden in der „Chadar Ochel“ eingenommen, dem gemeinsamen
Speisesaal. Die Member arbeiten in unterschiedlichen Gruppen. Im unteren
Bereich des Dorfes befinden sich Werkstätten, wie z.B. die Kerzenfabrik, Filz,
Holz, Keramik, Kita Or und Kita Oren
(kreative Workshops, in denen alte und stark eingeschränkte Member arbeiten).
Außerdem gibt es ein Gartenteam und die
„Pinat Chai“, einen kleinen Bauernhof mit unterschiedlichsten Tieren, wie
Pferd, Esel, Nasenbär, Ziegen und Schafe, Kaninchen und Hamster, Frettchen,
Tauben und Wellensittiche, Hühner … Ich
selber arbeite mit einer weiteren deutschen Volontärin und der Workshop-Leiterin
in der Filz-Werkstatt.
Hier gefällt es mir besonders gut, da
ich viele kreative Ideen und Vorschläge mit einbringen und umsetzen kann. So
fangen wir dieses Jahr z.B. an Filzblumen und Taschen zu machen. Das habe ich
bereits in Deutschland mal gemacht und bringe es jetzt den Membern bei. Das ist
hier allerdings nicht so einfach, da körperliche Behinderungen oder ein Sturkopf
dem Verständnis im Weg stehen können. So weiß z.B. Ella* ganz genau, wann sie
Wasser und wann sie Seife dazu geben muss, damit eine schöne Tasche bei
rauskommt. Trotzdem ruft sie alle paar Minuten nach mir und möchte, dass ich
doch mal ihre Arbeit überprüfe und sie kräftig lobe. Danach arbeitet sie
engagiert weiter. Eine andere Memberin hingegen möchte am Morgen alles anfangen
zu filzen, was sie grade nicht in die Hände bekommen soll, weil sie ein
Händchen dafür hat, Dinge zu zerschneiden oder auseinander zu rupfen. Sobald
man ihr dann doch eine Arbeit anvertraut oder sie darum bittet etwas zu tun
sträubt sie sich und trotzt: „Lo, ani lo rotza“, was so viel heißt wie „Nein,
ich will nicht“. Dagegen kann man dann auch nur schwer etwas tun. Die meisten
anderen jedoch sind sehr fleißig, arbeitswillig und motiviert, was in anderen
Werkstätten aufgrund des Behinderungsgrades nicht immer möglich ist.
Generell im Kfar und ebenso bei uns in
der Werkstatt geht es weniger um das Produktive, als um die sinnvolle
Beschäftigung der Member. Auch wenn man mal hier und da zu verzweifeln droht,
da einem alle auf dem Kopf rum tanzen und an alles denken, nur nicht daran auf
Anweisungen zu hören, so kann man am Ende des Tages doch immer auf ein paar
fertige Filzblumen blicken und denkt sich: „irgendwie klappt’s ja doch!“.
In meinem Workshop haben wir 15 Member,
die zwischen 21 und 60 Jahre alt sind. Die Art von Behinderung und der
Behinderungsgrad sind dabei sehr unterschiedlich. Sowohl physische als auch
psychische Einschränkungen, autistische Menschen, welche die unter schweren
Depressionen leiden, Behinderungen, die von Geburt an sind und andere, die
durch ein traumatisches Ereignis verursacht wurden. Trotz der bunten Mischung,
oder vielleicht sogar grade wegen der bunten Mischung kommen alle gut
miteinander klar und sorgen für
einander. Wenn ich morgens in den Workshop komme werde ich fröhlich Empfangen
mit: „Boker tov, Malin!“ oder „Ma nisch ma?“ (Guten Morgen Malin! Wie geht’s
dir?). Einige umarmen mich stürmisch zur Begrüßung, andere schenken mir ihr
schönstes Lächeln. Jeden Morgen freue ich mich schon drauf und fühle mich nicht
nur willkommen, sondern auch erwünscht.
mein Filzworkshop,
mit den insgesamt 15 Membern
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Insgesamt muss man sagen, dass alle
Member hier sehr selbstständig sind und nur mehr oder weniger Unterstützung
benötigen. Hier zeigt sich auch das Motto des Projekts: „Hilf mir, es selbst zu
tun.“ Genau das spiegelt sich auch in unseren Aufgabenfeldern wieder.
Morgens müssen einige Member geweckt
werden, andere benötigen leichte Hilfe beim Duschen, dies ist jedoch noch weit
von „Pflege“ entfernt. Danach arbeiten wir von 8h-12h in unserem festen
Workshop. Mittags hat man ab und zu Essensausgabe. Nach einer kleinen
Mittagspause beginnt das Nachmittagsprogramm, welches sehr vielseitig und
individuell ist. Von den israelischen und deutschen Freiwilligen werden
unterschiedliche Aktivitäten und AGs angeboten.
So z.B. das Sportprogramm von Fußball
über Basketball und Fahrradfahren bis hin zu Spazieren oder Tanzen. Einmal die
Woche gibt es eine Falaffelfahrt und eine Pita-AG. Es gibt ein Café, einen
Karaoke-Abend, Kino-Abend, Tanzen, Disko … eigene Ideen können gerne
verwirklicht werden.
Unabhängig von dem Angebot der Freiwilligen gibt es Unterricht für
die jüngeren Member, Hebräisch Unterricht für nicht Muttersprachler,
Musikunterricht, einen Chor, Malen, eine Diät-Gruppe, einen Raum zum Musik
hören und einen zum Spielen. Außerdem gibt es ganz neu einen Snoozelraum und
Sportgeräte im Außenbereich. Erst nach und nach habe ich das vielseitige
Angebot entdeckt und bin wirklich fasziniert wie viel Organisation dahinter
steckt und wie viele Möglichkeiten die Member haben.
Zweimal die Woche hat jeder zwei fest
zugeteilte Member, mit denen er eine Einzelbetreuung macht. Ich z.B. betreue
Miriam* und Gil*. Diese zwei Member sind komplett verschieden und haben sehr
unterschiedliche Ansprüche. Sich jedes Mal neu anzupassen und auf sie
einzulassen ist eine große Herausforderung. Zuerst einmal zu Miriam: sie ist
total aufgeweckt, fröhlich, motiviert, aktiv, lustig, humorvoll und sie lacht
sehr gerne - alles sehr positive Eigenschaften! Der einzige Haken ist, dass
Miriam super schnell abgelenkt ist und nicht ruhig sitzen kann. Wenn ich also
auf einer Bank sitze und mich super nett mit ihr unterhalte, dann kann es gut
sein dass sie im nächsten Moment aufspringt und zu irgendwem anders hinläuft.
Mir bleibt dann nichts anderes übrig, als ihr hinterher zu laufen. Ihre
Stimmung ist dann schlagartig sehr verändert und sie ruft: „ Schekket, dai,
stop annoying me. Please leave me alone.“ Die erste Reaktion ist, sie in Ruhe
zu lassen. Wenn man sie aber ein bisschen kennt, weiß man, dass man nur 5
Minuten warten muss und sie ist freundlich wie eh und je und hat vergessen,
dass sie mal sauer auf einen war. Die Arbeit mit ihr ist oft anstrengend und
mühsam, aber Miriam ist eine sehr liebenswürdige Person, die mir trotzdem das
Gefühl gibt, gerne mit mir Zeit zu verbringen. Schon Tage vorher informiert sie
sich, was wir denn geplant haben – auch wenn sie selber am Tag auf alles Lust hat,
nur nicht auf das Geplante. Unser größter bisheriger Erfolg war das gemeinsame
Pancake backen! :) Wir 2 können uns zum
Glück gut verständigen, denn Miriam kommt ursprünglich aus Australien und
spricht außer Hebräisch auch noch fließend Englisch.
Meine Einzelbetreuung und eine israelische Mitfreiwillige mit zwei Membern
Bei Gil ist das anders. Mit ihm ist die
Sprachbarriere eine große Herausforderung. Er spricht Persisch und Hebräisch –
beides beherrsche ich leider nicht so fließend. Er ist jedoch verlässlich, sehr
fröhlich und um einiges ruhiger als Miriam. Wir albern viel rum und unsere
Treffen sind meistens von Dialogen wie: „Lama lo“ – „Lama ken“ – „Lama lo“ –
„Lama ken“ (warum nicht – warum doch) usw. … dominiert. Dies kann man zu jedem x-beliebigen
Thema machen. Weil ich meistens nicht ganz verstehe worum es geht beschimpft er
mich mit einem belustigten Lächeln mit „At balaganiste“ (Du chaotin). Mit Gil
war ich auch schon mal im Ort Kiryat Tivon in einem Café. Die Member in unseren
Einzeljobs lernen wir mit der Zeit am besten kennen und dienen für diese auch
als Bezugsperson.
Ansonsten gibt es noch ein paar
unregelmäßigen Jobs, wie z.B. das Begleiten von einzelnen Membern zum
Arztbesuch oder der gemeinsame Ausflug mit ein paar Membern zum Basketballspiel
in Haifa. Letzteres ist ein großes Event und alle Member sind sehr aufgeregt
und froh.
Ein paar Häuser, in
denen die Member im Kfar wohnen:
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Genug zur Arbeit, kommen wir zur
Freizeit. Wir Volontäre wohnen nicht im Kfar, sondern im Ort Kiryat Tivon,
welcher zu Fuß 15min, mit dem Auto 5 min entfernt ist. Hier sind wir 12 in 3
bescheidenen WGs untergebracht. Es gibt jeweils zwei Doppelzimmer, Küche, Bad
und Wohnzimmer. 2 Mädchen WGs, eine Jungs WG.
Untereinander können wir uns und den Supermarkt in 2 min erreichen.
Im Kfar steht extra für die Volontäre ein
Karavan in der Nähe des Speisesaals, in welchem wir unsere Pausen verbringen
und welcher auch als Rückzugsort während der Arbeit dient. Dank zwei Betten,
einer kleinen Kücheneinrichtung, Dusche, Klo und einem kleinen Feuer- und
Sitzplatz davor lässt es sich hier gut die Zeit vertreiben und auch den einen
oder anderen BBQ gemeinsam genießen.
... und die wunderbare Aussicht.
2x die Woche findet für uns Freiwillige
ein Hebräisch-Sprachkurs statt. Leider hat er erst vor kurzem angefangen, dafür
ist er aber super und sehr hilfreich. Hier möchte ich kurz erwähnen, dass auch
meine Hebräisch Kenntnisse zunehmen und ich außer den einfachen Redewendungen
und Begrüßungs-Floskeln anfange die hebräischen Schriftzeichen lesen zu können.
Sechs Mitfreiwillige bilden eine „Music
Group“, mit der wir an Chanukka unseren Ersten Auftritt haben und den
Member-Chor unterstützen. Außerdem nehme ich am Kunstunterricht teil, den einer
der Workshop-Leiter uns in seiner Freizeit anbietet. Einmal die Woche treffen
wir uns abends für 2-3 Stunden und er gibt uns Tipps zum Malen und Zeichnen.
Um meinen persönlichen Eindruck von Kfar
Tikva zu beschreiben, möchte ich eine Einheimische zitieren, die uns im Auto
vom Kfar bis nach Hause mitgenommen hat: „ You work in Kfar Tikva? Oh,
that´s a unique place with special people.“ Wirklich! Der Name “Dorf
der Hoffnung” passt schon ganz gut. Die meisten Member, die einmal hier wohnen,
möchten auch gar nicht mehr woanders hin ziehen, auch wenn ihr
Gesundheitszustand es ermöglichen würde. So werden sie gemeinsam alt, und in
Kfar Tikva werden neue Häuser gebaut, um noch mehr Menschen mit Behinderung die
Möglichkeit zu geben, an dieser einzigartigen Gesellschaft teilhaben zu können.
Wer von euch noch Lust hat mehr zu lesen
und über meine vielen Wochenendtrips zu erfahren kann gerne mal auf meinen Blog
gucken: malin-goes-israel.blogspot.de
Ich danke euch allen, dass ihr mich
unterstützt und mir diese wundervolle Erfahrung möglich macht!
Shalom shalom, eure Malin